Ich bin begeistert. Ushahidi, ein Swahili-Wort, das übersetzt etwa soviel wie "Zeugenaussage" bedeutet, ist ein FLOSS (Free/Libre Open Source Software) Tracking/Mapping- bzw. Crowd-Sourcing Information-Programm auf PHP/MySQL-Basis, das ursprünglich für die Beobachtung der Wahlen in Kenya entwickelt wurde (siehe auch diesen Beitrag).
Sinn der Sache ist es, möglichst in Echtzeit bestimmte Ereignisse auf einer Google/Yahoo/OpenStreetview Karte darzustellen. Als echte Web 2.0 Anwendung setzt es natürlich auf die Partizipation der Benutzer, d.h per SMS, eMail, Twitter, Laconica/Identi.ca bzw. sämtlicher Statusnet-Installationen oder Web können Berichte über Vorkommnisse eingereicht werden. Ein Adminstrator schaltet sie dann frei und versucht gleichzeitig ihre Glaubwürdigkeit abzuschätzen. Die Einschätzung wird dann als "verifiziert" oder eben "nicht verifiziert" angezeigt.
Verschiedene Kategorien in unterschiedlichen Farben mit unterschiedlichen Symbolen ermöglichen eine präzise Einordnung der Ereignisse. Die Kategorien können dann wahlweise einzeln oder gebündelt auf der Karte angezeigt werden. Der Clou aber ist die Zeitleiste mit eingebautem Player: Man kann sich die Entwicklung im Zeitraffer wiedergeben lassen.
Die eigentliche Kraft dieser Anwendung liegt m.M.n. aber weniger in der "kollektiven Intelligenz" bzw. dem Sammeln möglichst vieler Informationen nach dem Motto: vier Augen sehen mehr als zwei, was Sascha Lobo anscheinend im Sinn hatte, die dann gegeneinander abgeglichen werden können (dem Hauptzweck des "Crowdsourcing" und der Erstellung der Software), als vielmehr in der Möglichkeit voneinander räumlich und zeitlich auf den ersten Blick unabhängige Ereignisse miteinander zu verknüpfen und historisch erfahrbar zu machen. Zu diesem Zweck kann man die verschiedenfarbigen Kategorien (bis jetzt leider noch getrennt voneinander) abspielen. Klingt ersteinmal wenig spektakulär, aber nehmen wir das Beispiel Euro-Krise und Griechenland: Hätte man volkswirtschaftliche Daten (soweit vorhanden ;)) oder auch nur die Berichte über Schwankungen, Schwierigkeiten und Engpässe eingetragen, und hernach die Ausbruchsherde des Widerstandes hinzugefügt, könnte man nun für jedermann sicht-, und nachvollziehbar eine kausale Beziehung visualisieren. Natürlich könnte man damit auch auf die (positiv korrelierte) "kausale" Beziehung zwischen "Piratenvorkommen" und "Auswirkungen des Klimawandels" vor Somalia hinweisen. Aber bei komplexeren Fragestellungen als dem bloßen Aufzeigen von Konfliktherden und Vorfällen gehören Erläuterung und Interpretation selbstredend dazu.
Ein weiteres Feld ist die Verfolgung von Ereignissen, die scheinbar nur singulärer Natur sind, die man ein paar Wochen später schon wieder vergessen hat und sich bei erneuten Auftreten nur noch dunkel erinnert: hmm, da war doch was. Wie "schön" wäre es zu sehen, die räumlich und zeitlich auseinanderliegenden Folterfälle der katholischen Kirche auf der Weltkarte im Zeitablauf sich akkumulierend anschauen zu können? Kein: Ach damals, dieser eine Vorfall, das ist doch ein alter Hut, mehr. Kein langes Suchen im Netz mehr, kein mühsames Zusammenklauben der Daten: einfach aktuell eingeben, und ein Jahr später überall auf der Welt die einzelnen Punkte sich mehren sehen, genau sagen können: zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort, haben sich die Opfer gewehrt, haben zurückgeschlagen, zu diesem Zeitpunkt ist die ganze Scheisse ans Licht gekommen. Mit Quellenangabe, versteht sich. Unter anderem liegt hierin der Wert eines Progs wie Ushahidi: Geschichtsschreibung zu übernehmen, partizipatorisch, unabhängig und für jeden erfahrbar und offen.
Damit könnte man, bei professioneller Umsetzung, Zusammenhänge leichter und vor allem anschaulicher verdeutlichen als in bloßem Text. Wer versteht heute schon so genau die Auswirkungen und Verbindungen des Freihandels mit deutschem Wirtschaftswachstum oder deutscher Steuerpolitik? Oder die Bedeutung anglo-amerikanisch-europäischer Massnahmen zur Verstärkung der inneren (Un-)Sicherheit im Hinblick auf den gemeinsamen Markt bzw. den freien Handel? Es hilft ungemein das Ganze aufzumalen und am besten auf einer Karte anzuzeigen um komplexe Zusammenhänge leichter verständlich darstellen zu können.
Ushahidi wird und wurde u.a. bei folgenden Ereignissen eingesetzt:
- in Kirgisien, um den Bürgerkrieg kritisch zu begleiten;
- bei den Kampala-Krawallen im Herbst 2009, als etwa 15 Menschen von Unsicherheitskräften umgebracht wurden;
- in Atlanta, zur Kriminalitätsveranschaulichung;
- in Haiti, um den Fortgang der Aufbauarbeiten zu dokumentieren;
- bei der Öl-Sauerei in Gods-own-Country;
- Update 25.07.2011: zur Korruptionsbekämpfung in Ägypten (Tweet von Ushahidi)
und noch einigen mehr. Die meisten Einsatzorte liegen bisher in Afrika. US-Amerika holt auf, gefolgt von Lateinamerika und Asien. Einzig Europa bleibt bei der Ushahidi-Nutzung ein leerer Fleck, obwohl gerade bei der Griechenlandpleite und weiteren drohenden Protesten in Frankreich und wohl auch Spanien ein Einsatz durchaus Sinn ergäbe.
Ich habe momentan zwei Ushahidi-Instanzen am laufen: Die eine möchte wichtige politische Ereignisse in Europa dokumentieren. Dazu zähle ich neben der Doppelmoral der Christen (gerade im Angesicht der neuen Mission zur Re-evangelisierung Europas ein wichtiger Punkt), auch die Doppelmoral bzw. kriminelle Energie unserer "Geschäftsleute" und Politker, die Angriffe auf bürgerliche Rechte und Freiheiten sowie die Antworten, die in Form von Demonstrationen und Streiks aus der Gesellschaft kommen.
Die andere Instanz lehnt sich an das NRO-Projekt an, und möchte die Einsatzorte und -gebiete der verschiedenen Nicht-Regierungsorganisationen graphisch darstellen.
Update 19.07.2010:
Zum Thema Neue Medien und Widerstandsbewegungen schreibt das Ushahidi-Vorstandsmitglied Patrick Meier gerade seine Dissertation.