Die Meuterei in Russland zeigt: Putins System der Adhokratie wird dem Regime selbst gefährlich, der Präsident ist durch politische Unternehmern erpressbar. Russland geht so geschwächt in die Offensive der Ukrainer.
System Putin
Putins System funktionierte nach dem Prinzip des politischen Entrepreneuers oder «Adhocrats» (Mark Galeotti): Putin macht weitgefasste Zielvorgaben, gibt Hinweise in welcher Richtung er Fortschritte sehen möchte. Die «Adhocrats» interpretieren diese vagen Vorgaben dann in einer Weise von der sie hoffen, dass sie Putins Gefallen finden.
Gemäss dieser Logik müsste Prigoschins Meuterei ein Unterfangen sein, das Putin nützt: die militärische Führung unter Sergey Shoigu wurde öffentlich für den gescheiterten Vernichtungskrieg gegen die Ukraine an den Pranger gestellt und in Form des stellvertretenden Verteidigungsministers Yevkurov gedemütigt («You’re just senile clowns», Meduza veröffentlicht das Transkript des gefilmten Austausches). Unterstützer und Sympathisanten der Meuterei haben sich, ebenso wie Putins Unterstützer, öffentlich gezeigt; Putin wüsste also wieder, wer Freund und wer Feind ist. Er könnte seine Position stärken. Auch dieser Autor hat sich in dieser Richtung geäussert – und geirrt.
Tatsächlich aber hat ihn die Meuterei massiv geschwächt: gemäss westlichen Nachrichtendiensten wusste er mindestens 24 Stunden vorher Bescheid, verhinderte den Marsch auf Moskau aber nicht. Ob dies daran lag, dass man in der Präsidialadministration Prigoschins Drohungen nicht ernst genug nahm, oder man nicht in der Lage war den Marsch zu verhindern, ist aktuell nicht klar. Im ersten Fall zeigte es eine weitere Fehleinschätzung, nach dem gescheiterten 3-Tagesmarsch nach Kiew, der russischen Spezialdienste. Im letzteren Fall hätte Putin de-facto keine Handlungsfähigkeit bei innenpolitischen Krisen.
Putin ist erpressbar
Jedenfalls steht die Untätigkeit in krassem Widerspruch zu Putins Ansprache vom Samstagmorgen: dort bezeichnete er Prigoschin indirekt als Verräter, seine Meuterei als terroristisch und drohte eine «unausweichliche» Bestrafung an. Die Wagner-Gruppe wurde als «ausländischer Agent» eingestuft, Mitglieder sollten vom FSB verhaftet werden, das Hauptquartier in Petersburg wurde durchsucht, mehrere Pässe auf unterschiedliche Namen, aber mit Prigoschins Foto, sowie Bargeld, Goldbarren und vermutlich Drogen wurden beschlagnahmt. Am Samstagabend war davon wenig übrig: freies Geleit für Prigoschin, die FSB-Strafuntersuchung eingestellt, Wagner nicht aufgelöst, sondern nach Belarus verlegt. Zwischenzeitlich wurde die Meldung verbreitet, es gäbe personelle Konsequenzen in der Führung des Verteidigungsministeriums.
Prigoschin hat seine erklärten Ziele, die Absetzung und Auslieferung von Shoigu und Gerassimow, zwar nicht erreicht, aber er hat einen Aufstand gegen den Präsidenten der Russischen Föderation angeführt, und nicht nur überlebt, sondern vermutlich auch eine nette Abfindung erhalten. Die Botschaft ist: der Präsident der Russischen Föderation ist erpressbar.
Keine guten Optionen
Prigoschin ist, schaut man sich die Reaktionen in Rostov oder in den sozialen Medien an, weitaus populärer als Putin. Dass jemand, der gerade eine Meuterei gegen den Kreml angezettelt und dabei sechs Kampfhubschrauber und ein Flugzeug zerstört, und dabei etwa 10 russische Soldaten getötet hat, unter Jubel und «high fives» Russlands zehntgrösste Stadt verlassen kann, ist ein für das Putin-Regime gefährlicher Präzendenzfall. Das Image des kompromisslosen Brutalos, der furchtlos Autoritäten in den Senkel stellt, kommt in der russischen Bevölkerung gut an. Und dass Prigoschin sich erstens traut die Meuterei zu beginnen, und zweitens es schafft unbehelligt von russischen Sicherheitskräften bis auf 200 km an Moskau heranzurücken, zeigt, dass er auch auf eine grössere Unterstützung als bislang angenommen in Politik und Sicherheitsapparat zählen kann. Das sind keine guten Nachrichten für Putin.
Hinzu kommt, dass die russischen Kriegsanstrengungen nun etwa 25'000 erfahrene Soldaten und militärisches Grossgerät verlieren. Denn ob die Wagner-Söldner sich, wie angekündigt, einfach so in die russische Armee eingliedern lassen, erscheint fraglich.
Putin kann zwar immer noch seine Androhung der Bestrafung wahr machen. Er kann den FSB nutzen, um die Wagnergruppe unter Druck zu setzen und ihre Sympathisanten zu verfolgen. Vielleicht kann er sogar Prigoschin ermorden lassen. Aber das Bild des Stabilitätsankers, der alles unter Kontrolle hat, ist nachhaltig zerkratzt. Ein (späterer) Tod Prigoschins ändert daran nichts.
Das gilt auf umgekehrte Weise für das Festhalten an Verteidigungsminister Shoigu, der sich seit Beginn der Meuterei nicht mehr hat blicken lassen. Hält er nach Prigoschins öffentlichen Beschuldigungen an Shoigu fest, überträgt sich der Verlierer-Geruch des erfolglosen Armeechefs auf ihn. Das wäre die weniger unangenehme Variante, schliesslich hat Putin selbst auf taktischer Ebene in die Kampfhandlungen gegen die Ukraine eingegriffen. Britische Medien spekulieren, dass Shoigu bereits entlassen wurde. Damit hätte Putin Prigoschins Forderung erfüllt. Trifft dies zu, ist Putins Lage noch prekärer als angenommen: er kann nicht nur seine Ankündigungen nicht wahr machen, er ist sogar gezwungen auf die Forderungen von Verrätern einzugehen.
Igor Girkin alias Strelkov, der 2014 im Auftrag Moskaus den Donbas destabilisierte, und seit Beginn des Vernichtungskrieges die russische Politik aus einer ultra-nationalistischen Perspektive kritisiert, fasste die Situation so zusammen: von jetzt an gibt es zwei Präsidenten: den echten Präsidenten, Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin, und den Vize-Präsidenten für Strafvollzug, Wladimir Wladimirowitsch Putin.
Gleichzeitig könnte Prigoschins Marsch kurzfristig das System Putin stärken. Nichts verbindet rivalisierende Banden so sehr, wie ein Feind, der die gemeinsame Beute angreift. Danach allerdings ginge die systeminterne Rivalität weiter, mit einem angezählten und alternden Putin.