Europäische Desintegration

Integration versus Desintegration und damit Scheitern, was immer das bedeuten mag, der Europäischen Union sind die Alternativen, die uns unsere Regierungen zur Zeit anbieten. Die EU Staaten und die EU Kommission möchten der Rezession und dem damit angeblich verbundenen Zerfall der EU entgegenwirken, indem sie ihre Budgets durch teils brutale Austeritätsprogramme zu sanieren versuchen.

 

In dieselbe Kerbe schlug auch Merkels Rede, in der sie Bürgern und Abgeordneten die Pistole auf die Brust setzte, als sie sagte, dass Europa scheitern würde, wenn der Euro scheitert. Dem ist mitnichten so. Die Idee Europas war und ist immer noch nicht einzig und allein von Anbeginn der Gemeinschaft an auf die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion ausgerichtet gewesen. Die europäische Idee von Frieden zwischen den Völkern Europas ist mittlerweile tief im kollektiven Bewußtsein der Bevölkerung verankert. Diese Versuche einen Sachzwang zu konstruieren wo keiner besteht zeugen daher entweder von völliger Unfähigkeit oder dem Versuch, die europäische Bevölkerung in die Irre zu führen.

Die zur Abstimmung der Budgets zu verwendende Methode, die Idee die Union stärker zu integrieren, das Peer-Reviewing, hat sich schon in der Vergangenheit in ihrer Ausprägung als Open Method of Coordination als nicht wirklich praktikabel bzw. wirksam erwiesen. Auf makroökonomischer Ebene verliert der einzelne Staat zudem zusehends seine Steuerungsmöglichkeiten, je weiter der freie Handel zwischen den Ländern fortschreitet, was sich aber auch durch verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung nicht verhindern lässt.

Und das wäre der punktum saliens. Das eigentliche Problem, und um das zu verstehen muss man nicht studiert haben, sondern einfach den gesunden Menschenverstand benutzen, liegt in der schwächelnden Nachfrage. Durch staatliche Sparmaßnahmen, etwa in der Familienpolitik, bei Infrastruktumassnahmen oder der Arbeitslosenhilfe, wird dieses Nachfragedefizit noch weiter zementiert, und noch in die Zukunft getragen, wenn Menschen keine Kinder bekommen wollen aus Angst vor einer Zukunft in Armut. Daran ändert sich auch nichts, wenn alle zusammen sparen. Die Ursache für dieses Defizit liegt im ungezügelten Freihandel. Wir sind jetzt in einer Periode, in der der Freihandel mehr schadet als nützt, in der die Löhne und damit die Konsumtion systematisch von der Produktivität entkoppelt werden, d.h. die Löhne langsamer steigen als die Produktivität.

Gemäß dem Heckscher-Ohlin-Theorem spezialisiert sich ein Land im freien Handel in Relation zu seinen verfügbaren Produktionsfaktoren. Ein Land das viel Kapital besitzt, wird also eher auf kapitalintensive Produkte setzten, als ein Land in dem Arbeitskräfte relativ im Überfluß vorhanden sind. Eine Folge daraus ist das Faktorpreisausgleichstheorem. Dieses Theorem besagt, dass sich die Faktorpreise, also die Preise für Kapital und Arbeit, auf einem freien Markt angleichen. Bezogen auf die industrialisierten Länder bedeutet das, dass die Löhne von qualifizierten Arbeitnehmern durch die Konkurrenz von ausserhalb gedrückt werden. Je weiter nun die Qualifikationsstufen der ausländischen Arbeitnehmer ansteigen, desto schärfer wird der Wettbewerb auch bei den höher Qualifizierten. Je niedriger aber die Löhne, desto niedriger die Gesamtnachfrage.

Umgekehrt erklärt sich daraus auch die relative Strukturschwäche der sogenannten Drittweltländern, und auch der europäischen Ländern des Club Meds. Deren Probleme sich zu industrialisieren und höherwertige Produkte zu verkaufen resultieren aus dem Druck den der freie Waren- und Kapitalaustausch mit sich brachte. Warum eine eigene Industrie aufbauen, wenn man die Güter schon aus Deutschland oder Japan beziehen könnte? Bei diesem Vorgehen profitieren bzw. verlieren die unterschiedlichen sozialen Gruppen natürlich unterschiedlich stark, woraus sich denn auch das Beharren auf dem Freihandelsdogma der meisten deutschen und europäischen Eliten erklärt.

An dem Ganzen hat die deutsche Wirtschaft, die manchmal auch den Titel "Exportweltmeister" verpasst bekommt, keinen geringen Anteil. Der Absatzmarkt des einen, ist schliesslich hier der Binnenmarkt des anderen. Wenn also Deutschland mit seiner Effizienz, Präzision und Disziplin verhindert, dass sich andere Nationen ebenfalls industrialisieren, dann zerstört es damit ultimativ seinen Absatzmarkt und schliesslich den eigenen Gewinn. Der sinkenden Gesamtnachfrage wird sich das Angebot irgendwann anpassen müssen, was die Löhne und den Konsum weiter drücken wird.

Was heisst das nun für Europa? Es heisst erstens, dass die europäischen Eliten ganz genau wissen, warum sie noch schnell "Bankenrettungsschirme" aufspannen und die höhere Besteuerung ihrer Einkommen und Vermögen dringend verhindern müssen. Es heisst zweitens, um aus dieser Situation herauszukommen, dass der freie Austausch von Waren eingeschränkt werden muss. Protektionismus ist das böse Zauberwort, dass man heutzutage kaum ungestraft öffentlich aussprechen darf bzw. eine intelligente europäische Desintegration. Die genaue Ausgestaltung eines solchen Arrangements müsste geklärt werden, aber da wir ja in Europa nur 27 Staaten sind und uns die Entwicklungsländer sowieso am Allerwertesten vorbeigehen, dürfte das kein unmögliches Unterfangen sein.

Erinnern wir uns: Die USA waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die demokratischste und gleichzeitig protektionischste Nation der Welt. Die tatsächliche Alternative zum jetzigen Kurs lautet daher weniger ökonomische Integration, dafür mehr politische Integration und vor allem mehr Demokratie, Mitbestimmung und Transparenz in Entscheidungsprozessen, die uns alle über mehrere Generationen hinweg betreffen werden.